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1945 - Flucht der deutschen Einwohner aus Groß-Tworsewitz

Auszug aus dem Gelobten Land                                            
(Bericht von Gerda Weigt über die Flucht (9))

Unsere Nachbarin aus der alten Heimat Gerda Weigt wurde 1924 geboren. Sie ist die Tochter des Bauern Otto Weigt, der von 1939 bis 1945 Bürgermeister von Groß-Tworsewitz war.

Sie berichtet:
Am Samstag, dem 20. Januar 1945, etwa zur Mittagszeit wurden durch Telefonanruf alle Bürgermeister zum sofortigen Erscheinen beim Amtskommissar nach Reisen bestellt. In Vertretung ihres Vaters fuhr Gerda mit dem Kleinkraftrad dort hin. Die versammelten Bürgermeister warteten einige Stunden auf eine angekündigte Nachricht von der Kreisverwaltung. Etwa um 16 Uhr kam die Anordnung zur unverzüglichen Räumung der Orte und zur Flucht. Die Bürgermeister hatten die Trecks zu organisieren. Auf dem Heimweg benachrichtigte Gerda die Bauern in Klein-Tworsewitz. Ihr Vater war inzwischen mit dem Schlitten in Reisen eingetroffen. Auf dem Nachhauseweg benachrichtigte er die Bauern in Marianowo und Groß-Tworsewitz. Abfahrt sollte um 22 Uhr sein. Gutsbesitzer Weikert stellte einen Ackerwagen (Kastenwagen) für den Schmied Emil Schulz und den Schuhmacher Franz Schulz je zur Hälfte bereit, außerdem zwei Kastenwagen für die russlanddeutschen Flüchtlinge. Etwa ab 22 Uhr sammelten sich die Wagen in Groß-Tworsewitz. Folgende Bauern wollten ihre Heimat nicht verlassen: Alle Bauern aus Przybin, aus Klein-Tworsewitz die Bäuerin Thomas, aus Groß-Tworsewitz die Bauern Wilhelm Stolpe, Waldmeyer, Ambrosius Müller, der bettlägerige Bauer Herrmann Schulz mit Schwiegertochter und die Bäcker-Familie Waldmeyer.
Die meisten Zugpferde waren nicht mit Stollen beschlagen. Auf glatten Straßen konnten sie deshalb schlecht ziehen. Nach Verspätung setzte sich der Treck in Bewegung. Der Vater von Liesbeth Schulz war zum Volkssturm nach Lissa einberufen worden. Ihr Bruder befand sich im Wehrertüchtigungslager. Nur sie und ihr jüngerer Bruder Rudi, 14 Jahre alt, waren zu Hause. Alle Last lag so auf den Schultern ihrer Mutter. Als sie recht verzweifelt mit ihren Habseligkeiten schon auf dem Wagen saßen, kam ihr guter und fürsorglicher polnischer Nachbar Walek Wojta angelaufen, gab ihnen aus ihrer Werkstatt Axt und Spaten und sagte: Das könnt ihr vielleicht noch gebrauchen. Diese Werkzeuge sollten ihnen in den nächsten Jahren tatsächlich gute Dienste leisten. Etwa um 24 Uhr fuhr der Treck aus dem Dorf, also schon am Sonntag, dem 21. Januar 1945.
Zwei junge Mädchen aus der Gruppe der Russlanddeutschen liefen hinter ihrem Wagen her, hatten sich untergehakt und stimmten eines ihrer Volkslieder an. Die Wagen knarrten und der Schnee knirschte. Weinen und Sprechen hörte ich nicht.
Die Trecks durften keine Hauptstraße benutzen, also fuhren die Wagen den alten, mit Pappeln besäumten Landweg nach Dambitsch weiter nach Reisen. Dort wurde die Familie Kunze, Tochter der Weigts mit 5 Personen aufgenommen. Dann ging die Fahrt weiter über Kloda nach Lehsten (früher Tschirnau). Dort hatte Familie Weigt Verwandte, deshalb wurde kurz Rast gemacht. Guhrau wurde früh am Morgen erreicht. Die Straße von Guhrau nach Schlichtingsheim war stark vereist. Von dort fuhr der Treck weiter nach Glogau und bog kurz davor nach Niederfeld (früher Klein-Gräditz) ab. Familie Schulz hatte dort Verwandte. Deshalb wurde nach 20 Stunden Fahrt hier zum ersten Mal Halt gemacht. Menschen und Pferde fanden  hier ein Unterkommen und ein Ruhetag wurde eingelegt.
Für die bis jetzt zurückgelegte Strecke von 50 km brauchte der Treck etwa 20 Stunden. Alle Straßen hatten eine festgefahrene und oft schon zerfahrene Schneedecke. Besonders die Straße von Guhrau nach Schlichtigsheim war stellenweise spiegelglatt. Hier sahen die Menschen zum ersten Mal im Graben liegengebliebene Fahrzeuge anderer Trecks. Oft kam es dort zu Staus und Behinderungen. Es ist nicht bekannt, ob schon auf diesem Wegstück Fuhrwerke der Tworsewitzer zurückgeblieben waren.

Da die Oderbrücke in Glogau für Zivilfahrzeuge gesperrt war, fuhr der Treck auf der rechten Oderseite flussabwärts auf schlechten Nebenstraßen bis Beuthen/Oder, genannt Kuhbeuten. Große Schwierigkeiten bereitete den Pferden die vereiste Zufuhr zur dortigen Oderbrücke. In den nächsten Tagen ging die Fahrt weiter über Neusalz, Christianstadt/Naumburg, Sommerfeld, Pförten, Forst, Cottbus, Lübben, Halbe in den Kreis Zossen. Das Problem der Übernachtungen war oft sehr schwierig zu lösen. Alle Orte an dieser Fluchtroute waren hoffnungslos überfüllt. Im Kreis Zossen fanden die meisten Flüchtlinge ein Quartier. Die Tworsewitzer Gruppe hatte sich schon vorher weitgehend aufgelöst. So fuhr der Bauer Otto Klopsch, er hatte als Flaksoldat eine Hand verloren, bis in ein Dorf nach Jüterbog. Als Kuriosum sei vermerkt, dass er mit seiner polnischen Magd Anna und gemeinsamen Sohn aus der Heimat los fuhr und mit Ehefrau Anna und gemeinsamen Sohn dort ankam. Die nicht gesetzlich getrauten Eheleute lebten aber trotzdem Zeit ihres Lebens glücklich und zufrieden zusammen. Die Flucht der Tworsewitzer dauerte etwa 14 Tage, wobei Ruhetage eingerechnet sind. Es wurden etwa 330 km gefahren. Im Vergleich zu anderen Gruppen war das eine verhältnismäßig kurze Strecke. Organisation und Leitung der Flüchtlingstrecks waren bei uns nicht vorhanden. Erst jenseits der Oder setzten organisatorische Maßnahmen ein, verstärkt im Kreis Zossen. Die Tworsewitzer erhielten in verschiedenen Dörfern ihre Quartiere.